In Kooperation mit dem Zukunftsinstitut

Reverse Recruiting: Aus Arbeitgebern werden Bewerber

 

Kronberg i.Ts., 2019

In Zeiten des Fachkräftemangels entwickelt sich der Arbeitsmarkt zu einem Bewerbermarkt. Unternehmen müssen aktiv auf Mitarbeitersuche gehen. Dabei werden neue Recruiting-Strategien erforderlich, denn junge Nachwuchstalente suchen nach Sinn und einer gemeinsamen Wertebasis.

 

Arbeitswelt im Wandel

Der Fachkräftemangel ist in aller Munde und bereitet vielen Branchen Schwierigkeiten: So fehlten etwa im Pflegebereich laut dem Institut der deutschen Wirtschaft in Köln 2018 knapp 350.000 Pflegekräfte – bis 2035 wird die Versorgungslücke sogar auf rund 500.000 fehlende Fachkräfte geschätzt (Flake et al. 2018). Auch technische Berufsbereiche sind betroffen: Der Verband der Elektrotechnik prognostiziert für die nächsten zehn Jahre eine Ingenieurslücke von über 100.000 offenen Stellen (VDE 2018). In hoch spezialisierten Berufsbereichen bereiten die sich laufend verändernden Anforderungen im Zuge der Digitalisierung und Automatisierung zusätzliche Probleme bei der Mitarbeiterfindung. 64 Prozent der Unternehmen in Deutschland haben Schwierigkeiten, freie Stellen für IT-Fachkräfte zu besetzen (Statistisches Bundesamt 2018).


Zum Fachkräftemangel tragen mehrere Faktoren bei: Durch den demografischen Wandel treten weniger Nachwuchskräfte in den Arbeitsmarkt ein. Manche Berufsfelder gelten darüber hinaus aufgrund der Bezahlung und der Arbeitsbedingungen seit Jahren als unattraktiv und werden daher zunehmend gemieden. Das liegt auch an einer veränderten Ausgangsposition heutiger Bewerber auf dem Arbeitsmarkt: Sie profitieren von einem gestiegenen Wohlstand in der Gesellschaft, sind finanziell oft besser abgesichert als die Generationen vor ihnen und haben in der heutigen Start-up-Kultur nicht nur mehr Möglichkeiten, Geld zu verdienen, sondern auch mehr Freiheiten in der Jobwahl. Gleichzeitig haben sich die Lebensentwürfe in den letzten Jahrzehnten ausdifferenziert – das Leben richtet sich oftmals nicht mehr nur nach der Arbeit: So ist zum Beispiel die Vereinbarkeit des Jobs mit Familienzeiten immer wichtiger geworden – für Frauen und zunehmend auch für Männer.

 

Unter dieser Neuausrichtung heutiger Lebens- und Karriere-Entwürfe kippt die alte Logik des Arbeitsmarkts langsam hin zu einem Bewerbermarkt: Arbeitssuchende bewerben sich nicht mehr in Massen auf eine Stelle, sondern Unternehmen müssen sich zunehmend aktiv bei ihnen bewerben. Neue Methoden wie Employer Branding oder Reverse Recruiting helfen dabei, passende Talente anzuziehen – und werden zur Notwendigkeit: So zeigt eine Studie des Startup Instituts, dass über 40 Prozent der Gründer personelle Engpässe als Hauptgrund für das Scheitern von jungen Unternehmen sehen und über 79 Prozent von ihnen große Schwierigkeiten beim Recruiting haben (Wirminghaus 2014).


Sinn und Werte hoch im Kurs

Die jungen Fachkräfte wünschen sich zwar immer noch finanzielle Sicherheit durch ihren Job, suchen aber vor allem persönliche und professionelle Entwicklungsmöglichkeiten, interessante Arbeitsinhalte und Sinnhaftigkeit. Extrinsische Faktoren wie Status, Karriere und Gehalt treten als primäre Motivationstreiber zusammen mit dem Leistungsparadigma in den Hintergrund. Mehr noch: Jeder Zweite in Deutschland wäre heute laut einer Xing-Studie bereit, in einen Job mit mehr Sinnhaftigkeit oder gesellschaftlicher Verantwortung zu wechseln, auch wenn der Lohn dort geringer ausfallen würde (Xing 2019). Das betrifft nicht nur Büroangestellte, sondern wird im Kontext des gesamtgesellschaftlichen Wertewandels auch für Industriearbeiter und Handwerker immer wichtiger werden.

 

Menschen bewerten Jobs heute stärker anhand intrinsischer Motive: Sie wünschen sich eine Arbeit, die ihnen Spaß macht und sinnvoll erscheint. Das zeigt sich auch in den Negativ-Statistiken: Aus dem aktuellen Fehlzeitenreport der AOK geht hervor, dass Menschen, die ihre Arbeit nicht als sinnvoll zu empfinden vermögen, unter deutlich mehr arbeitsbedingten Beschwerden leiden als jene, deren Job ihnen Sinnerlebnisse vermittelt. So gaben über die Hälfte der Befragten mit schlechter Sinnpassung an, häufig an Erschöpfung und Rücken- oder Gelenkbeschwerden zu leiden – von denen mit guter Sinnpassung waren es dagegen nur knapp ein Drittel (Badura et al. 2018).

 

Menschen erleben vor allem dann Sinn, wenn folgende Grundbedürfnisse erfüllt sind:

  • Selbstwirksamkeit: das Gefühl, etwas aktiv durch die eigenen Handlungen bewegen zu können
  • Authentizität: sich selbst und seinen Prinzipien in der Arbeit treu bleiben und sich in die gewünschte Richtung weiterentwickeln zu können
  • Zugehörigkeit: sich selbst als (wirksamen) Teil der Gesellschaft verstehen zu können
  • Soziales Engagement: einen gesellschaftlichen Beitrag leisten zu können

Junge Nachwuchstalente erwarten heute, dass sie in ihrem Unternehmen im Einklang mit ihren persönlichen Überzeugungen arbeiten können und dass ihr Arbeitgeber für dieselben Werte steht wie sie. Denn ein Gefühl der Sinnhaftigkeit geht auch einher mit der Frage nach dem „Was“ und „Wofür“. So arbeiten Menschen, die im privaten Haushalt umweltbewusst leben, bevorzugt für ein Unternehmen, das sich in Nachhaltigkeitsfragen eindeutig in ihrem Sinne positioniert. In Zukunft wird es daher immer wichtiger, schon im Recruiting-Prozess auf eine Übereinstimmung der Werte von Arbeitgeber und -nehmer zu achten.

 

Neue Relevanz der Unternehmenswerte

Unternehmen müssen sich dafür zunächst der eigenen Werte bewusst werden: Denn die ausgestrahlten Werte eines Unternehmens implizieren ein Versprechen an potenzielle Mitarbeiter, dass ihre Investition an Lebenszeit und Arbeit in das Unternehmen für sie mit Sinn verknüpft sein wird. Eine positive Sinnspirale entsteht, wo Arbeitnehmer intrinsisch motiviert sind, Energie in ihre Arbeit zu stecken. Umgekehrt heißt das: Wenn die Mind- und Wertesets nicht übereinstimmen, ist die  Investitionsbereitschaft gering, anstelle von Motivation tritt Frustration und es entsteht eine negative Sinnspirale.


Bei der Arbeit mit und an den eigenen Unternehmenswerten hilft eine bewusste Selbstreflexion in zwei Schritten:


1. Werte analysieren, schärfen und klar formulieren

  • Als Basis für ein werteorientiertes Recruiting müssen sich Unternehmen stärker und durch alle Abteilungen hindurch selbst reflektieren, gemeinsam die ideellen und kulturell gelebten Werte definieren – und diese kontinuierlich überprüfen. Reflexionen wie „Für welche Werte stehen wir als Firma? Was treibt uns an? Was sind unsere kulturellen Gene?“ können dabei helfen, das im Betrieb etablierte Mindset zu identifizieren.
  • Anschließend gilt es, das identifizierte Werteprofil weiter zu schärfen und als Botschaft klar nach außen zu  kommunizieren, sodass passende Kandidaten gezielt angesprochen werden.

2. Gegebenenfalls Werte überdenken

  • Unternehmen können ihre Werte heute nicht mehr als gesetzt betrachten: Bewerben sich laufend unpassende Kandidaten und ist die Fluktuation hoch, kann eine Überarbeitung des eigenen Wertesets notwendig werden. Dabei hilft es herauszufinden, welches Werteset diejenigen Nachwuchstalente haben, die für das Unternehmen begeistert werden sollen.

Auf den ersten Blick scheint die Mitberücksichtigung der eigenen Werte die Herausforderungen für Unternehmen auf dem Arbeitsmarkt noch zu erhöhen: Der Kreis der potenziellen Arbeitnehmer wird wesentlich eingeschränkt. Das kann sich aber lohnen: Wer von Anfang an die passenden Bewerber auswählt, wird langfristig die Fluktuation senken, die Motivation erhöhen und die Wertebasis des Unternehmens weiter stärken.


Vom Skillset zum Mindset

Beim Kampf um die besten Mitarbeiter stand bisher das Skillset im Vordergrund: fachliche Kenntnisse, Ausbildung und Berufserfahrung. Aus einer wertebasierten Sicht muss die Mitarbeitersuche um die Dimension des Mindsets erweitert werden. Der Leitsatz lautet dann: „Hire for attitude, train for skills“. Die Passigkeit der Werte- und Mindsets kann im Bewerbergespräch durch Fragen überprüft werden wie: „Was lässt Sie gerne zur Arbeit gehen?“ oder „In welchem Arbeitsumfeld können Sie Ihre Produktivität voll ausschöpfen?“

 

Aber auch schon bei der Suche und Ansprache von potenziell passenden Bewerbern sollten Unternehmen sich Gedanken machen, wo und wie sie auftreten: Handelt es sich beispielsweise um ein fortschrittsorientiertes, digitalaffines Unternehmen mit offener Unternehmenskultur, bieten Social-Media-Kanäle völlig neue Möglichkeiten, etwa mit einer Instragram-Dokuserie Arbeitsplätze im Unternehmen zu porträtieren und so den Teamspirit für Außenstehende erlebbar zu machen.


Sind die neuen, zur eigenen Wertematrix passenden Mitarbeiter erst einmal gefunden, gilt es, diese auch zu halten. Das kann nur gelingen, wenn das unternehmenseigene Werteset laufend überprüft und im Inneren gelebt wird. Legt ein Unternehmen beispielsweise Wert auf gute Kundenbeziehungen und eine hohe Kundenorientierung, erwarten Mitarbeiter, dass ein solches Beziehungsverständnis auch das Verhältnis von Arbeitgeber zu Arbeitnehmer prägt. Wenn ein Unternehmen Wert auf Gesundheit und Nachhaltigkeit legt, muss sich dies sowohl in seinen Produkten, als auch in seiner Unternehmenskultur widerspiegeln. Versteht sich ein Unternehmen als innovativ und agil, muss es auch für seine Mitarbeiter permanente Weiterentwicklungsmöglichkeiten bieten.


Statt an der Suche nach einem passenden Skillset zu verzweifeln, können Arbeitgeber auf systematische interne Fortbildungsmaßnahmen setzen, um Bewerber nachträglich auf ein bestimmtes Jobprofil hin zu spezialisieren. Das verschafft ihnen auch den Freiraum, im Recruiting-Prozess den Schwerpunkt auf ein gemeinsames Mindset zu legen. Und sie bieten jungen Talenten damit nicht nur den gewünschten Weiterentwicklungsraum, sondern können gleichzeitig eine Kultur der permanenten Adaptationsfähigkeit etablieren: In Zeiten der sich ständig verändernden Anforderungen an Unternehmen und Jobprofile kann so eine bleibend hohe Innovationskraft gewährleistet werden.

 

Literatur

Badura/Ducki/Schröder/Kose/Meyer (Hg.) (2018): Fehlzeiten-Report 2018. Berlin, Heidelberg
Flake, Regina/Kochskämper, Susanna/Risius, Paula/Seyda, Susanne (2018): IW-Trends 3/2018.
Fachkräfteengpass in der Altenpflege. Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V.
Statistisches Bundesamt (2018): Umfrage zur Besetzung freier Stellen für IT-Fachleute in Unternehmen in Deutschland. In: statista.com, 13.9.2019
VDE – Verband der Elektrotechnik (2018): E-Ing 2025: Technologie, Arbeitsmarkt, Ingenieurberuf. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschaft. Köln
Wirminghaus, N. (2014): Umfrage. Vier von fünf Startups leiden unter Fachkräftemangel. In: gruenderszene.de/allgemein/startups-fachkraeftemangel-umfrage, 23.9.2019
Xing (Hg.) (2019): Gehaltsstudie 2019. In: gehaltsstudie.xing.com, 10.10.2019
Zukunftsinstitut (Hg.) (2018): Ali Mahlodjis Work Report 2019. Frankfurt am Main